Fünf Tage Zeit für Lernen - das ist viel Zeit zum Nachdenken, zum Reflektieren und für Diskurse
Interview mit Prof. Dr. Sabine Schmidt-Lauff zur Bildungszeit
DGB Sachsen: "Frau Schmidt-Lauff, sie haben eine Professur an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg inne und beschäftigen sich schon sehr lange mit den Themen Weiterbildung und Lebenslanges Lernen. Bayern und Sachsen sind die einzigen Bundesländer in denen es noch kein Bildungsfreistellungsgesetz gibt. Das bedeutet neben dem gesetzlich geregelten Urlaubsanspruch zusätzliche Zeit für Bildung.
In Sachsen fordern wir fünf Tage und wir wollen, dass das Bildungsfreistellungsgesetz in Sachsen im Jahr 2020 eingeführt wird. Was würde sich Ihrer Meinung nach für die in Sachsen lebenden Menschen mit so einem Gesetz verändern?"
Prof. Schmidt-Lauff: "Es könnte sich tatsächlich sehr viel verändern. So kann man davon ausgehen, dass bei zwei Millionen erwerbstätigen Menschen in Sachsen, bei einer regulären Inanspruchnahme des Bildungsurlaubs, immerhin etwa 20.000 Menschen pro Jahr an einer Bildungsfreistellungsmaßnahme teilnehmen würden. Das heißt an einem Kurs oder einem Angebot, das die Interessen derArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen abdeckt - vom Beruflichen, Arbeitsplatzorientierten bis hin zum Politischen, Kulturellen oder auch Fragen von Gesundheitsbildung. Also eine Menge an Menschen könnten damit erreicht werden.
Das würde natürlich auch viel Veränderung für die Bildungsträger mit sich bringen. Auch die müssten sich Gedanken dazu machen: wo liegen Interessen und welche Programme erreichen welche Zielgruppen. Man müsste sich auch Gedanken machen über Menschen, die vielleicht bisher aus dem Weiterbildungssegment rausfallen, die nicht teilnehmen z.B. aufgrund betrieblich schwieriger Arbeitssituationen. Die Bildungsbenachteiligten der Zukunft sind möglicherweise nicht mehr allein diejenigen, die schlechte Schulabschlüsse gemacht haben oder prekäre Schulerfahrungen, sondern auch die, die in hoch intensiven Jobs arbeiten und die einfach zu wenig Zeit haben, um noch explizit an Weiterbildung teilzunehmen. Also man kann sich plötzlich auch über neue Lernzielgruppen Gedanken machen.
Es wird auch die Weiterbildungslandschaft von den Formaten her verändern. Fünf Tage Zeit für Lernen. Das ist viel Zeit zum Nachdenken, zum Reflektieren, für Diskurse - zum Austauschen von Kontroversen und Interessen. So viel Zeit nimmt sich der durchschnittliche Kurs, gerade im beruflich-betrieblichen Bereich, überhaupt nicht mehr. Das heißt, es entsteht wieder eine ganz neue Lernkultur im Erwachsenenalter. Das entfaltet auch andere Zeitqualitäten – auch das zur Ruhe kommen und reflektieren können. Und auf der anderen Seite ist es so, dass auch moderne Formate einfließen können. Herausforderungen, die wir durch die Digitalisierung haben. Auch diese werden durch das Bildungsfreistellungsgesetz noch mal neu angeregt.“
DGB Sachsen: „Welche Chance sehen Sie für die Arbeitgeber?“
Prof. Schmidt-Lauff: „Was wir ja sehen – und das betrifft nicht nur Sachsen – ist ein Generationenwechsel, der gerade Kleinunternehmen und mittlere Unternehmen betrifft. Also die bisherige Geschäftsführung geht raus und es kommt die „junge Generation“ nach. Und dies ist eine Generation, die mit ihrer eigenen Berufstätigkeit sehr viel mehr verbindet, als nur ein funktionierendes Arbeits- oder Dienstleistungswesen zu sein. Man hat den Anspruch, sich selber zu entwickeln, z.B. zum Thema Persönlichkeit. Die junge Generation ist ganz aufgeschlossen für Werte, die eine Berufstätigkeit begleiten, aber lange Zeit gar nicht im Mittelpunkt standen. Deswegen denke ich, dass der Moment, in dem über das Bildungsfreistellungsgesetz geredet wird, genau der richtige ist, denn die junge Generation besetzt nun die wichtigen Entscheidungsstellen in Unternehmen und Betrieben und sieht darin vielleicht noch eine ganz eigene Perspektive.
Generell würde ich natürlich immer sagen: Wenn das Bildungsfreistellungsgesetz gelungen, geschickt und klug verknüpft wird, im Sinne einer gesamten Personalentwicklungsstrategie, dann ist das ein Schlüssel, der neben anderen Instrumentarien, die schon bestehen, möglicherweise noch mal eine ganz andere Lernkultur in ein Unternehmen bringt. Und das, was man in den 1990er Jahren diskutiert hat, „das lernende Unternehmen“, wird dann noch mal auf ganz andere Füße gestellt. Was ich mir für die Arbeitgeber wünschen würde, ist, dass die Vorteile eines Bildungsfreistellungsgesetzes für sie sichtbar werden. Viele Arbeitgeber nehmen sich auch die Chancen, es tatsächlich einfach mal auszuprobieren, um dann zu sehen, dass es unterschiedliche Interessen gibt, was Bildung und Entwicklung im Unternehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betrifft. Denn die gibt es natürlich. Das sind divergierende Interessen, aber darüber überhaupt erst mal zu reden, danach gefragt zu werden „Welches Potential siehst du denn oder sehe ich in dir?“, das ist nach meiner Beurteilung ein sehr großer Zugewinn für die gesamte Unternehmens- und Arbeitskultur.
Und man muss natürlich sagen: Es gibt ganz eindeutig und sofort einen ganz konkreten Nutzen. Denn ca. 60 bis 80 Prozent der Weiterbildungen über Bildungsfreistellungen – das sehen wir in den anderen Bundesländern, wo es den Bildungsurlaub längst gibt – finden tatsächlich mit beruflicher Orientierung oder Ausrichtung statt. Also hat hier der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin einen direkten Nutzen, dass dort auch berufsbezogene und arbeitsplatzbezogene Interessen verwirklicht werden.
Müssen Arbeitgeber im Zeitalter von Fachkräftemangel nicht daran interessiert sein, gleich zu ziehen? In 14 Bundesländern gibt es einen Standortvorteil. Da haben die Arbeitnehmer fünf Tage mehr Bildungszeit für sich. Also warum gibt es das in Sachsen nicht?“
DGB Sachsen: „Sachsen befindet sich ja gerade zweifelsohne vor starken gesellschaftspolitischen Herausforderungen, wenn man sich z.B. den Zulauf zur AfD zur letzten Bundestagswahl anschaut. 2019 finden die nächsten Landtagswahlen statt. Wie könnte gerade bei solchen gesellschaftspolitischen Diskussionen ein Bildungsfreistellungsgesetz helfen?“
Prof. Schmidt-Lauff: „Die Grundidee des Bildungsfreistellungsgesetzes war immer, die politische Bildung stark zu machen. Dies zeigt sich ebenfalls in den letzten Studien, die es zum Bildungsurlaub in Bremen gab, dass nämlich die politische Bildung eine überdurchschnittlich große Rolle spielt und eine sechsmal höhere Bedeutung hat, als in den generellen Weiterbildungsangeboten.
Gerade in den Feldern, die Sie angesprochen haben, steht Sachsen aktuell sehr stark in der öffentlichen Wahrnehmung. Und da ist es wichtig, zu zeigen, dass man dies wahrnimmt und darauf reagiert, jedoch konstruktiv zum Beispiel mit einem Bildungsfreistellungsgesetz. In der politischen Bildung in Sachsen gibt es bereits Ansätze, z.B. „W wie Werte“, die darauf abzielen, Demokratie zu bilden. Aber Demokratiebildung endet nicht in der jungen Generation oder in der Kindheit und Jugend. Das heißt, wir brauchen auch im Erwachsenenalter „W wie Werte“, denn ein demokratisches Bewusstsein habe ich nicht, sondern das muss ich mir erarbeiten und erringen, auch in vielen Kontroversen, die ich in meinem politischen Handeln erlebe, immer wieder herstellen. Ich muss mich auch darin stärken, immer wieder vergewissern, was ich möchte. Das heißt, es ist ein lebenslanger Prozess der Demokratiebildung, der auch lebendig gehalten werden muss und ich glaube das ist eine riesen Chance.“
Das Interview führte Susann Grieger (DGB Bezirksjugendsekretärin)